HT 2008: 'Neuständische Gesellschaft' – Europäische Geschichte im globalen Kontext (1750-1830/40)

HT 2008: 'Neuständische Gesellschaft' – Europäische Geschichte im globalen Kontext (1750-1830/40)

Organisatoren
Reinhard Blänkner, Europa-Universität Viadrina Frankfurt an der Oder; Ina Ulrike Paul, Friedrich-Meinecke Institut, Freie Universität Berlin; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD)
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.09.2008 - 03.10.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Anne K. Kohlrausch, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Die Sektion „’Neuständische Gesellschaft’ – Europäische Geschichte im globalen Kontext (1750-1830/40)“ unter Leitung von Ina Ulrike Paul und Reinhard Blänkner wollte an den Forschungsfeldern Politik, Kultur, Ökonomie, Wissen und Geschlechterordnung im Zeitraum von 1750 bis 1840 den Erkenntniswert des von Blänkner als ‚Neuständische Gesellschaft’ bezeichneten Konzeptes ausloten. Dazu dienten vier an den genannten Forschungsfeldern orientierte Vorträge und zwei anschließende Kommentare. Mit Barbara Stollberg-Rilinger und Eckhart Hellmuth waren Kommentatoren geladen, von denen ein kritischer Blick auf das Konzept zu erwarten war. Somit war es erklärtes Anliegen der Sektion, die aktuelle wissenschaftliche Debatte um die Begriffe ‚Sattelzeit’, ‚Übergangszeit’ oder eben ‚Neuständische Gesellschaft’ aufzuzeigen, vor Ort weiterzuführen und einen weiterreichenden Diskussionszusammenhang zu begründen.

In seinem einleitenden Vortrag erläuterte REINHARD BLÄNKNER (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt an der Oder) Inhalt und Perspektiven des Konzepts der Neuständischen Gesellschaft, welches er von den Begriffen der Sattelzeit und der Übergangszeit abgrenzte. Neuständische Gesellschaft erfasse als Konzept die zwischen der altständischen Ordnung und der fabrikindustriellen Klassengesellschaft gelegene eigenständige soziale Figuration, die durch die Entstehung der Gebildeten Stände geprägt gewesen sei, die als neue Elite Teile des altständischen Bürgertums und des Adels in sich fassten. Zudem schließe es sich mit seiner Ausdifferenzierung in die Forschungsfelder Ökonomie, Politik, kulturelle Vergesellschaftung, Wissen und Geschlechterordnung an die zeitgenössische Semantik an, wie beispielsweise entsprechende Begriffe der politischen Ökonomie und der Gesellschaft in jener Zeit erst entstanden seien. Gemeinsam wiederum sei diesen Feldern die globale Kommerzialisierung, die im Wesentlichen auch Grund für den anvisierten „globalen Kontext“ ist, weshalb das Konzept der Neuständischen Gesellschaft in engem Bezug zum Begriff der ‚commercial society’ stehe, der – ebenfalls zeitgenössisch – von der Forschung seit einigen Jahren wieder aufgegriffen werde. So zeigte sich deutlich die mit dem Konzept verbundene Intention, die Zeit zwischen 1750 und 1840 mit Begriffen zu beschreiben, die, weil sie dem Selbstverständnis der Zeit entstammen, dessen Eigenheit analytisch zu erfassen vermögen. Fragwürdig bleibt die auch in dieser Begriffsfindung sich abzeichnende Fokussierung auf die Eliten der Zeit und eine lediglich auf die Kommerzialisierung gründende globale Perspektive, die wiederum nur diese Eliten als Akteure aufzeigt.

GISELA METTELE (University of Leicester) stellte in ihrem Vortrag „Die Ordnung der Geschlechter. Bürgerinnen und weibliches Standesbewusstsein“ die Frage nach der Tragfähigkeit des Konzeptes Neuständische Gesellschaft aus der Perspektive der Geschlechtergeschichte. Diese Frage nutzte sie, um ein differenziertes Bild der Geschlechterordnung um 1800 zu zeichnen, die sie durch eine Gleichzeitigkeit vom Fortbestand ständischer Rechte und Denkmodelle und von einem im Rückblick vom 19. Jahrhundert leicht zu übersehenden Experimentieren gekennzeichnet sieht. In diesen neuen Kommunikations- und Interaktionsformen eröffneten sich Frauen der Gebildeten Stände vielfältige Handlungsspielräume. Zwei wesentliche Bereiche legte Mettele näher dar: Erstens die Geselligkeitsformen, die ihren Raum um 1800 im Haus der Gebildeten Stände fanden, und zweitens die Verwandschaftsnetzwerke, die häufig von Frauen geknüpft und aufrechterhalten wurden. Deren eingehende Untersuchung – dies ein Ausblick des Vortrages – vermöge Aufschluss über die „Kohäsionskräfte der neuständischen Gesellschaft“ zu geben. Insofern zeigte Mettele aus der Sicht der Geschlechtergeschichte vielfältige Aspekte auf, die das Konzept der Neuständischen Gesellschaft inhaltlich bestätigten, wies aber zugleich darauf hin, dass aufgrund des Fortbestandes ständischer Strukturen in der Geschlechterordnung eine Anlehnung an ein Konzept des langen 18. Jahrhunderts ebenso angemessen sei.

Im ihrem Vortrag „Markt macht Meinung. Zur Nationalisierung des enzyklopädischen Wissens in Europa“ skizzierte INA ULRIKE PAUL (Freie Universität Berlin) Ergebnisse ihres Forschungsprojekts „Alle Kreter lügen. Nationale Stereotypen in Enzyklopädien, Wörterbüchern und Konversationslexika Europas vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert“ hinsichtlich der Frage, inwieweit die Käufer und Leser von Enzyklopädien und Konversationslexika im 18. und frühen 19. Jahrhundert jenen zuvor beschriebenen Eliten der Neuständischen Gesellschaft entsprachen. Anhand einer detailreichen Darstellung erläuterte Paul die Gleichzeitigkeit transnationaler Entstehungszusammenhänge und einer Nationalisierung des Marktes von Enzyklopädien und Konversationslexika: Europaweit gingen diese auf die gleichen Vorgänger zurück und wandten sich an ein Publikum aus Gelehrten, Gebildeten (Männer wie Frauen) und an jene, die gebildete Konversationen zu führen beabsichtigten. Zugleich waren die landessprachlich verfassten Werke um eine Konturierung der jeweiligen Identität im politisch-kulturelle Sinne bemüht. Die Entwicklung dieses Marktes aus Verfassern, Verlegern und Leser/innen setzte, so Paul, weit vor der Französischen Revolution ein und zeigt die kontinuierliche Herausbildung der Gebildeten Stände, auf die das Konzept Neuständische Gesellschaft zielt. So stützte Paul einerseits dessen zentrale Konzeptualisierung der Gebildeten Stände, wies aber andererseits durch den dargestellten Zeitraum auch darauf hin, dass deren Entstehung bereits vor dem der Sektion überschriebenen Zeitrahmen anzusiedeln ist.

JULIA SCHMIDT-FUNKE (Johannes-Gutenberg-Universität Mainz) stellte im Vortrag „Kommerz, Kultur und neuständische Identitäten“ dar, wie die Gebildeten Stände zwischen 1750 und 1830 als spezifische Konsumgemeinschaft auftraten. Dabei arbeitete sie heraus, wie sich die Gebildeten Stände im Bereich des Lesens, im Kleidungsstil vornehmer Bescheidenheit und in der Inneneinrichtung des Biedermeier als Funktionselite in ihrem Selbstverständnis konstituierten und sich gegenüber niederen Ständen, auch dem gemeinen Bürgertum, vermittels des guten Geschmacks, den Schmidt-Funke als Bildungswissen auffasst, abgrenzten. Am Beispiel des Surrogats zeigt sie auf, dass dieser Konsum von einem expliziten Streben nach Innovation geprägt war. Zudem vollzog Funke sowohl anhand der konkreten Waren als auch anhand ihrer Darstellungen in der Presse nach, wie sich einerseits die Konsumkultur international entwickelte, wie sich aber schließlich in der Bezeichnung eines Nationalgeschmacks auch nationale Interessen und Traditionen ausdrückten. Auch erläuterte sie am Beispiel der Mode, wie dem Konsum geschlechtliche und ständische Eigenschaften zugeschrieben wurden und wie somit die politische Ausgrenzung der Frauen einher ging mit der Zuschreibung von Verschwendungssucht. So zeigte Schmidt-Funke an ihrem Gegenstand deutlich die Herausbildung und das Selbstverständnis der neuständischen Gebildeten Stände sowie deren internationale Zusammenhänge und Ähnlichkeit bei zugleich nationaler Ausprägung.

Im folgenden und letzten Vortrag „Strukturwandel des Politischen. Verfassung als politisch-soziale Integration der neuständischen Gesellschaft“ führte REINHARD BLÄNKNER (Frankfurt an der Oder)aus, wie die Verfassung als „Problemlösungsformel“ die Integrationskrise der altständischen Ordnung in der Mitte des 18. Jahrhunderts beantwortete. Blänkner betonte, dass Aufgabe der Verfassung nicht allein die Konstitution bürgerlicher Rechte war, sondern ebenso eine Reorganisation der ständischen Ordnung, die in der neuständischen Verfassung mündete, deren „soziales Substrat“ jene in den vorherigen Vorträgen dargestellten Gebildeten Stände gewesen seien. Zugleich habe die symbolische Ordnung der Verfassung, die hier nicht allein politisch-rechtlich aufgefasst wird, durch Semantik und symbolisches Handeln eine integrative Funktion eingenommen. Zudem seien die internationalen Verflechtungen und das Verständnis des politischen Raumes als über Europa hinausgehend dem zeitgenössischen Begriff der Konstitution als Verfassung nach innen und nach außen inhärent gewesen. Daher plädierte Blänkner dafür, in der Konzeptualisierung der betrachteten Periode dem hier anhand der Verfassung dargelegten Strukturwandel des Politischen deutlicher Rechnung zu tragen.

In ihrem Kommentar stellte BARBARA STOLLBERG-RILINGER (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) den Zugewinn an Erkenntnis über die Zeit von 1750 – 1830 durch das Konzept der Neuständischen Gesellschaft grundsätzlich in Frage. Diesem gegenüber betonte sie, dass der Begriff der Sattelzeit die Epoche als Zeit beschleunigter Veränderungen zwischen zwei Zeiten institutioneller Verfestigung treffender erfasse. Gerade die Vorträge hätten gezeigt, dass eine epochale Abgrenzung wegen der vielfältigen dargestellten Phänomene des Übergangs nicht deutlich auszumachen sei. Die Begriffe des Neuständischen und der Gebildeten Stände, mit welchen die eigenständige politisch-soziale Figuration zentral beschrieben und behauptet werde, verkennen Stollberg-Rilinger zufolge, dass diese Figuration gerade nicht mehr ständisch gewesen sei. So kam Stollberg-Rilinger zu dem Schluss, dass der in den Vorträgen diskutierte Zeitraum gegenüber dem 18. und 19. Jahrhundert keine hinreichend eigenständige Figuration aufweise, um einen Epochenbegriff, der dieses konstatiere, zu rechtfertigen, zumal dieser die eigentliche Zäsur der Zeit zu wenig betone. Zugleich gestand sie zu, dass die Übergänge dieser Zeit noch weiterer Forschung und präziser Konzeptualisierung bedürften.

ECKHART HELLMUTH (Ludwig-Maximilians-Universität München) schließlich bezog sich in seinem Kommentar auf die Vorträge von Blänkner und Schmidt-Funke. Dabei kritisierte er Blänkners Ausführungen zur Verfassung als zu uneindeutig zwischen ihrer rechtlich-politischen und ihrer diskursiven Auffassung verortet. Zudem wies er darauf hin, dass die Beobachtungen zur Verfassung für den englischen Raum nicht gelten könnten. Zweitens zweifelte Hellmuth die zugrundeliegende Argumentationsstruktur einer von Komplexitätssteigerung ausgelösten Krise des Politischen und einer darauffolgenden Wiederherstellung als zu sehr den Modernisierungstheorien der Soziologie folgend an. Dem Beitrag von Schmidt-Funke hielt Hellmuth eine auf Campbell zurückgehende alternative Epochenbezeichnung entgegen. Diesem zufolge ist der Ursprung der Konsumgesellschaft in einem romantischen Charakterideal zu suchen, weshalb Hellmuth die Bezeichnung ‚romantische Periode’ für die Geschichte des Konsums dieser Zeit als angemessener vorschlug, zumal in dieser auch die Elemente des Exotischen, nicht nur des Schlichten enthalten seien.

In der darauffolgenden offenen Diskussion gelang es Schmidt-Funke, die Kritik Hellmuths zu entkräften, da Campbells Konzept zum einen nur für den englischen Raum gelten könne und zum anderen die Zeit um 1800, auch in der Auffassung des Exotischen, zu sehr vom Ergebnis her konzeptualisiere. Zudem wies sie – im Hinblick auf die Kritik Stollberg-Rilingers – darauf hin, dass die diskutierte Zäsur um 1800 für die Konsumgeschichte nicht von so tragender Bedeutung sei wie in anderen Bereichen.

Ob die Zeit von 1750 bis 1830 eher dem langen 18. oder dem langen 19. Jahrhundert zuzurechnen sei, ob diese Zeit eine hinreichend eigenständige Figuration aufweise, um als eigene Epoche zu gelten, wie diese zu bezeichnen sei und wie die Zäsur um 1800 in ihren Bedingungen und Auswirkungen zu bewerten sei, sind Fragen, die diese Sektion gestellt hat und aufgrund detailreicher, einander zu einem vielfältigen Bild der Epoche ergänzenden Vorträge in Ansätzen beantwortet hat. Die abschließende Diskussion zeigte erneut den Erklärungsbedarf, den das Konzept der Neuständischen Gesellschaft mit sich bringt, zugleich aber auch, dass die alternativ vorgeschlagenen Epochenbezeichnungen und –einordnungen auch jeweils nur von begrenztem erklärenden Wert sind. Insofern haben die Vorträge wie auch die Diskussion die Spezifik einer Zeit aufgezeigt, die von einer „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ geprägt war und zu deren Verständnis ein Nebeneinander verschiedener Epochenkonzepte und deren Diskussion nur beitragen kann.

Sektionsübersicht:

Reinhard Blänkner (Frankfurt an der Oder), Ina Ulrike Paul (Berlin): „Neuständische Gesellschaft“ – Erklärungskonzept für die Strukturveränderungen der europäischen Gesellschaften im globalen Kontext (1750-1840)

Gisela Mettele (Leicester): Die Ordnung der Geschlechter. Bürgerinnen und weibliches Standesbewusstsein

Ina Ulrike Paul (Berlin): Markt macht Meinung. Zur Nationalisierung des Wissens in enzyklopädischen Lexika Europas

Barbara Stollberg-Rilinger (Münster): Kommentar

Julia Schmidt-Funke (Mainz): Kommerz, Kultur und neuständische Identitäten. Konsumgesellschaft um 1800

Reinhard Blänkner (Frankfurt an der Oder): Strukturwandel des Politischen. Verfassung als politisch-soziale Integration der neuständischen Gesellschaft

Eckhart Hellmuth (München): Kommentar